Niki de Saint Phalle (1930–2002), eine der wichtigen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, ist weltweit bekannt geworden durch ihre «Nanas»: Sie zeugen von einer scheinbar unbekümmerten Fröhlichkeit, die das Bild der Künstlerin geprägt hat. Aber Niki de Saint Phalles Schaffen ist weit mehr.
Ihr Gesamtwerk ist überraschend facettenreich – exzentrisch, emotional, düster und brutal, humorvoll, hintergründig und immer wieder herausfordernd. Das überaus breite Spektrum ihrer Tätigkeit zeigt sich in Malerei und Zeichnung, in den Assemblagen, Aktionen und grossformatigen Skulpturen, aber auch im Theater, im Film und in der Architektur.
Sie beschäftigte sich intensiv mit sozialen und politischen Themen und hinterfragte Institutionen und Rollenbilder – Auseinandersetzungen, die ihre Relevanz heute wieder unter Beweis stellen. Niki de Saint Phalle hat mit ihren legendären «Schiessbildern», die in provokativen Aktionen bereits in den 1960er-Jahren entstanden, einen entscheidenden Beitrag zu der gerade heute hochaktuellen Kunstform der Performance geleistet. Verfolgt man ihren künstlerischen Werdegang, so erscheinen vor diesem Hintergrund viele ihrer Werke, vor allem die «Nanas» und die grossen Installationen im öffentlichen Raum, in einem anderen Licht. Die Auswahl der Werke für diese Ausstellung gibt Einblick in das komplexe und hochinteressante Schaffen dieser Ausnahmekünstlerin – und natürlich bietet sie auch ein buntes, vielseitiges Sehvergnügen, das Christoph Becker als seine letzte Ausstellung für das Kunsthaus kuratiert hat.
Biografie
Im Sommer 2000 machte Niki de Saint Phalle der Stadt Hannover ein großartiges Geschenk – sie übereignete dem Sprengel-Museum 300 ihrer Werke – und erneuerte damit eine alte Verbindung. 1969 hatte sie in Hannover eine ihrer ersten großen Einzelausstellungen, und 1974 kaufte die Stadt drei ihrer leuchtendbunten, voluminösen Frauenfiguren und stellte die Nanas direkt am Leineufer auf, wo sie heute zu einem der Wahrzeichen Hannovers geworden sind.
Niki de Saint Phalle war eine Weltbürgerin, 1930 geboren bei Paris, aufgewachsen in New York, auf Reisen in Europa, später tätig in der Schweiz, Frankreich, Israel, Italien und zuletzt wieder in Kalifornien. Ihr intensiv gelebtes Leben ist der Stoff, aus dem ihre Werke entstanden sind, eine große Portion Aggressivität ist der Motor, der sie antreibt, aber auch Lebens- und Liebeslust, gepaart mit Humor und einem enormen Arbeitsvermögen. Sie war fähig, die Verletzungen, die das Leben mit sich bringt, ins Produktive zu verwandeln.
Nach einer Kindheit in einer großbürgerlichen Familie und der streng katholischen Erziehung in einer amerikanischen Klosterschule heiratete sie mit achtzehn Jahren einen jungen amerikanischen Künstler und bekam zwei Kinder. Nach einem psychischen Zusammenbruch begann sie in der Nervenheilanstalt zu malen – am Anfang der selbsttherapeutische Versuch einer Autodidaktin, ihre Alpträume und Träume in Bilder umzusetzen.
1955 begegnete sie dem Schweizer Metallkünstler Jean Tinguely – »Er war die Person, die ich treffen musste« und ging eine enge Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit ihm ein. Die Idee der Schießbilder entstand – weiße Materialobjekte mit eingearbeiteten Farbbeuteln, auf die geschossen wurde, wodurch Aggressionen frei wurden und die Farbe sich über das Bild ergoss. Die Schießbilder erregten Aufsehen und wurden ihr erster Erfolg. Sie sagte selbst dazu: »1961 schoss ich auf Papa, alle Männer, bedeutende Männer, dicke Männer, Männer, meinen Bruder, die Gesellschaft, die Kirche, den Konvent, die Schule, meine Familie, meine Mutter…«. Mit dem monumentalen Bild Kingkong war die Befreiungsaktion der Schießbilder abgeschlossen. Jetzt konnte Niki de St. Phalle sich einem neuen Thema zuwenden: ab 1962 setzte sie sich auf ungewöhnliche Weise mit der Frauenrolle auseinander. Es entstanden plastische Objektbilder von Frauenfiguren wie Die rote Hexe, Die Braut, Die rosa Geburt und Das Monster.
Und dann kamen die Nanas, die die Künstlerin berühmt machten. Die ersten Figuren waren noch aus Draht und Stoff, sie wurden 1964 in Paris ausgestellt. 1966 folgte das erste Großprojekt im Moderna Museet in Stockholm – eine begehbare 27 m lange liegende Frauenfigur mit Eingang durch die Vagina, die Urmutter aller folgenden Nanas, die nun, monströs, heiter, poppig bemalt, provokant und empörend die Welt erobern sollten. Mit ihrer Parole “Alle Macht den Nanas” griff Niki de St. Phalle die in der Luft liegenden Ideen der Frauenbewegung auf. Zunächst als überlebensgroße Polyesterfiguren gestaltet, wurden die Nanas in jeglicher Form – als Schmuckstücke, Parfümflakons, Plakatmotive – zum Symbol für weibliches Selbstbewußtsein und Stärke.
Bei allen folgenden Großprojekten, wie dem Paradis fantastique für die Expo 67 in Montreal, oder dem Golem, einem Spielgelände für Kinder in Jerusalem, war Tinguely ihr kongenialer Berater und Helfer. Eins ihrer bekanntesten gemeinsamen Werke wurde der Stravinsky-Brunnen in Paris, in dem sich St. Phalles bunte Polyesterfiguren und Tinguelys bewegliche Metallobjekte wunderbar kombinieren.
Im Lauf der 1970er Jahre entstanden dann neue Reihen – die Großen Köpfe, die Paare, die Alles verschlingenden Mütter, zwei Filme, ein Theaterstück, schließlich die Skinnies – Transparentplastiken, die sich auch in ihrem Tarotgarten in der Südtoskana wiederfinden. Ende der siebziger Jahre begann sie mit diesem größten, umfassendsten Projekt. Angeregt durch die fantastischen Barockgärten der Toskana (Bomarzo und Villa d’Este) und die Figuren des Tarot schuf sie in fünfzehn Jahren Arbeit zusammen mit Tinguely und vielen HelferInnen ein Parkgelände – mit Blick auf das Meer und ein stillgelegtes Atomkraftwerk – voller monumentaler begeh- und bewohnbarer Plastiken. Während die einzelnen Figuren Motive aus dem Tarot aufgreifen – der Turm, der Herrscher, der Tod – verwendet sie für die Gestaltung der leuchtendbunten und spiegelnden Oberflächen Mosaiksteine nach alter italienischer Handwerkstradition. 1996 wurde der Garten erstmals für das Publikum geöffnet und ist seitdem zu einer großen touristischen Attraktion der Region geworden.